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Tour

Um Schwärzenbach

Ins Neue Jahr mit Vivaldi und Brel

Schüchtern und leise verbirgt sich das jungfräuliche Jahr unter einer feucht-grauen Decke. Als ob es nach den Verheerungen seines Vorgängers noch zögern würde, den Zauber des Neuen zu versprühen.
Auch ich fahre zögerlich in diesen zerbrechlich wirkenden Neujahrsmorgen, fahre über leere Strassen und entvölkerte Landschaften, fühle mich verloren, wie auf einem fremden Planeten.
Ein prächtig rotbeschwanzter Fuchs durchkreuzt ein weisses Feld und zeugt von Leben. Ob er wohl eine Gans gestohlen und vor dem Weihnachtsschmaus gerettet hat? Gedankensprung zu meiner Deutschlandwanderung vor 2 Jahren. Wenn ich damals von Angstgefühlen übermannt wurde, schüttelte ich sie einfach durch lauthalses Trällern des alten Kinderliedes aus der Kehle.

Die Strassen sind vorbildlich von den Resten des alten Jahres befreit und bieten bis zur Ankunft am Loipenhäusle bei Schwärzenbach eine sichere Fahrunterlage.
Mein Sportsfreund hält schon ungeduldig Ausschau und nach dem Anschnallen der Schneeschuhe laufen wir zuversichtlich los, hinein in den eleganten, schwarz-weissen Neujahrs-Wald.
Die Stille2 und Einsamkeit auf der ersten Schneeschuhtour in diesem Jahr und Winter erscheint anachronistisch, befeuert das Kopfkino und wird so zu einer kleinen Zeitreise in den historischen Schwarzwald. Früher waren hier viele Regionen oft monatelang von der Aussenwelt abgeschnitten, Schneeschuhe wurden als Fortbewegungsmittel genutzt, um die weit voneinander entfernten Schwarzwaldhöfe in den zugeschneiten Gegenden zu erreichen. Es braucht nicht viel Phantasie, sich in diese Zeit hineinzuversetzen.

17 km und 600 Höhenmeter auf einer wunderbar weichen Schneeunterlage durch menschenleere Wälder. Manchmal führt der Weg entlang frischgespurter Loipen, häufig aber über längere, ungespurte Abschnitte, mit ca. 40 – 50 cm Tiefschnee.
Mein Sportsfreund lässt mir immer wieder grosszügig den Vortritt. Man läuft wie auf Wolken in diesem traumhaft weichen, tiefen Schnee! Doch die Spurarbeit ist auch brutal anstrengend und schweißtreibend. Tapfer und stoisch pflüge ich durch Wald, als hätte ich nie was anderes gemacht und in der vergangenen Nacht nicht nur 5, sondern 10 Stunden geschlafen. Wir vermuten die multiplen Drosten-Daiquiries als Verursacher des Popeye-Effekts.
Da tönt der Sportsfreund aus dem Hinterhalt: Hilde, du bist ein Tier!
Ok. Vermutlich das einzig schönste Kompliment am Neujahrstag.
Es dauerte einen ganzen Tag, bis er mit voller Wucht die ganze Wahrheit herausrückt:
PISTENRAUPE!
„Mit Dir als Pistenraupe kommt man ja überall durch!“
Zum Glück ist heute Ruhetag. Genug Zeit zu überlegen, ob Pistenraupe noch als Kompliment durchgeht… 😉

Merde. Wie kriege ich nun den Bogen über die fast unüberwindbare Kluft von der Pistenraupe zu Brel? Achso ja, es ist Neujahr!
Jacques Brel und seine großartigen Chansons begleiten mich schon seit früher Jugend durch mein Leben.
Mit 24 verließ er sein Erbe, seine Frau und drei Kinder und stand dann plötzlich in Paris mit einer Gitarre in der Hand.
Jacques Brel schrie nach Leben, während er davon sang, was es kaputt macht: Einsamkeit, Resignation, Scheinheiligkeit, Feigheit, Egoismus, Ungerechtigkeit der Herrschenden. Und von der proletarischen Aufrichtigkeit noch im Elend sang er – von ehrlichen Huren und besoffenen Matrosen im Hafen von Amsterdam.

So ist es wenig verwunderlich, dass auch seine packende Neujahrsrede von 1968 in meinem Herz hängt.

„Ich wünsche euch endlos viele Träume und eine riesengroße Lust, einige davon zu verwirklichen.
Ich wünsche euch zu lieben, was man lieben kann, und zu vergessen, was man vergessen muss.
Ich wünsche euch Leidenschaften, ich wünsche euch Stille.
Ich wünsche euch Vogelgesang beim Erwachen und Kinderlachen.
Ich wünsche euch, die Andersartigkeit der Menschen zu respektieren, denn der Verdienst und Wert eines jeden müssen oftmals erst entdeckt werden.
Ich wünsche euch, nicht aufzuhören, der Erstarrung des Alltags, der Gleichgültigkeit und den negativen Einflüssen unserer Zeit zu widerstehen.
Ich wünsche euch auch, niemals die Suche aufzugeben und nie vom Abenteuer, vom Leben und der Liebe abzulassen,
denn das Leben ist ein wunderbares Abenteuer und kein vernünftiges Wesen soll es es ohne harten Kampf aufgeben.
Ich wünsche euch, vor allem Ihr selbst zu sein, stolz darauf zu sein und glücklich zu sein – denn das Glück ist unsere wahre Bestimmung.“

Mit den Worten von Jacques Brel wünsche ich allen Lesern ein wunderbares, Neues Jahr.
Hilde, die Pistenraupe

Fazit: edle Winterwanderung durch stille Wälder, vorbei an einsamen Schwarzwaldhöfen. Eine Melange aus Vivaldi und Gottesdienst. Ganz große Hommage an den Schwarzwald!