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Ungereimtes

My Corona!

Im weit entfernten Heilbronn liegt Elvis im Sterben. Elvis, der alte Kater meiner Freundin. Karin ist sehr traurig. Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn sich ein geliebtes Katzentier auf leisen Pfoten aus der Welt schleicht. Mein stilles Mitgefühl begleiten ihre Trauer im vollen Berninaexpress, von Tirano bis nach Chur.

Drei wunderbare Tage liegen hinter uns, nun geht es Richtung Heimat.
Etwas müde und gelangweilt daddle ich auf meinem Tablet, bis mich eine Nachricht aus dem dösigen Zustand reisst. Corona, irgend so’n Virus aus China, das irgendwann ein paar Schritte von der Fledermaus zum Menschen schaffte, hat sich in die Lombardei verirrt und verbreitet sich dort in epidemischen Ausmassen. Eine Grenzschliessung wird in Erwägung gezogen.
Na, da haben wir nochmal Glück gehabt! Denke ich. Wir haben grade Italien verlassen.

Karin schafft es am nächsten Tag noch rechtzeitig nach Hause, um Elvis über die Regenbogenbrücke zu begleiten. Einen Tag später feiere ich mit den Kindern und Enkeln konfettifreien Geburtstag. Mein Afghanischer Freund kocht für uns. Geben und Nehmen – eine schöne Geste.
Als der Rotwein aus Tirano ausgetrunken ist und sich die letzten Freunde verabschiedet haben, neigt sich auch die von mir geschmähte Fasnacht dem Ende zu.

Die weiteren Tage plätschern so vor sich hin. Arbeit, Treffen mit Freunden, Besuch bei den tierischen Freunden auf der anderen Seeseite, ein Ausflug auf den Gäbris, Demonstration für die Menschenwürde und gegen das Sterben im Mittelmeer.
Pläne für Ostern werden geschmiedet. Da habe ich frei und freue mich schon auf ein Wiedersehen mit den Kindern.
Pläne für das Outdoortreffen im Mai in Mecklenbug-Vorpommern werden geschmiedet.
Pläne für die Kanadareise und die Mehrtagestour mit Gudrun im Sommer werden geschmiedet. Obwohl die möglichen Ziele auszugehen drohten, habe ich wieder eine lohnenswerte Tour gefunden. Den Sentiero Cristallina im Tessin.
Und so viel Vorfreude auf all dies!

Corona versteckt sich derweil immer noch hinter der italienischen Grenze. Bis zur ersten Absage. Es trifft mein geliebtes Frühstückstreffen. Erste Fälle aus der Region werden gemeldet.
Dann kommt die zweite Absage. Samstags-Theater mit Abendessen, auf welches ich mich so sehr freute. Zu riskant, so viele Leute auf einem Haufen. Was für ein Theater! denke ich.
Und dennoch denke ich jetzt auch schon mehrfach am Tag in Coronaeinheiten.

Samstag und Sonntag habe ich frei, schönes Wetter gibt es obendrein. Ich schnappe mir den Wanderfreund und wir laufen gemeinsam eine stattliche Runde über den Sipplinger Berg. Statt Theater gibt es anschliessend Abendessen im Kula. Es könnte schlimmer kommen. Der Laden ist voll, abstandslos wird getrunken, gegessen und getratscht.
Am Sonntag in der Früh treffe ich den Wanderfreund erneut zu einer finalen Schneeschuhtour. Zum Eggberg bei St.Antönien soll es gehen. Dass das Ende der Wintersaison nicht mangels Schnee erfolgen sollte, ahnen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Die Skilifte haben aus Scherheitsgründen inzwischen schon geschlossen, doch die oberen Parkplätze sind fast alle ohne Sicherheitsabstand belegt. Viele Skitourengänger zieht es nach dem Neuschnee und bei fantastischem Wetter noch mal in die Berge. Am Berg gibt es keine Berührungsängste, es hat genügend Platz für alle. Stille, Weite, Nähe, stoisch ragen ringsum die stolzen Berggipfel in den blauen Himmel. Nur die Sonne ist Zeugin. Man möchte die Zeit anhalten, wünscht sich, dieser Tag würde niemals zu Ende gehen. Und doch…
Auf der Rückfahrt im Radio die Nachrichten. Deutschland schliesst die Grenzen zur Schweiz. Diese Nachricht trifft, will jetzt aber gar nicht in meinen Kopf!

Am Sipplinger Berg
Im Aufstieg zum Eggberg

Wieder in der Arbeit. Wir bekommen eine Corona-Beurteilung und Gummihandschuhe. Der persönliche Kontakt mit den Kunden wird auf ein Minimum eingeschraänkt. Von nun an gehts im Schweinsgalopp. Wir dürfen nicht mehr in die Küche, in den Aufenthaltsraum. Bekommen einen Passierschein für eine eventuelle Ausgangssperre. In Ermangelung an Munschutzmasken behelfe ich mir mit einem Schaltuch, welches bei Kundenkontakt schnell über Mund und Nase gezogen ist.
Herr N. sieht mich durch die Glastür, kommt mit erhobenen Armen auf mich zu und versichert: „ich habe keine Wertgegenstände im Haus.“ Ich erwidere: „das ist ein Menüberfall. Raus mit dem Leergut!“
Frau T. – auch mundbeschutzt – meint: „so ein Käse! Wir haben doch nichts, aber sicher ist sicher.“
An der Tankstelle, beim Zahlen. Ich sage: „die zwei, mit Karte bitte“
Sagt er: „wie, Sie wollen bezahlen? Ich wollte Ihnen jetzt grade die Scheine rüberreichen.“
Zum Begegnungszentrum, wo wir einstempeln und die Autoschlüssel abholen, haben wir keinen Zutritt mehr. Dadurch verlängert sich mein Arbeitsweg, die Autos stehen ab sofort alle an der Rosenau. Für die tägliche Dosis Frischluft ist gesorgt. Es gibt Schlimmeres für Bewegungssüchtige wie mich.
Währenddessen häufen sich Meldungen über Hamsterkäufe. Vor allem Klopapier wird gehamstert. Klopapier?
Ganz ehrlich, all die Hoffnung, die Menschheit könne überleben, hat sich für mich zerstört mit dem Wissen, dass Menschen angesichts einer Katastrophe hauptsächlich an Kackpappe denken. Kein Ausserirdischer wird hier je fündig werden auf der Suche nach Intelligenz.
Mein erster Einkauf seit der Krise. Ich stehe mit Bananen, Milch und Käse vor der Kasse. Der Laden ist überfüllt. Dann streiken plötzlich die Kassen. Es blinkt und piepst übrall. Der Marktleiter – er hat Schweissperlen auf der Stirn – und das Kassensystem sind sichtlich überfordert. Nach 20 Minuten ist der Spuk vorbei und ich kann zahlen.
Im Baumarkt besorge ich für eine unmotorisierte Freundin Blumenerde. Sie möchte sich während der ausgangsarmen Zeit mit Pflanzarbeiten vergnügen. Es herrscht eine entspannte, fast familiäre Stimmung im Laden – angenehme Auswirkung der geschlossenen Grenze, aber ein schwaches Trostpflaster.
Es wird empfohlen, im Haus zu bleiben. Und wenn raus, dann nur max. zu fünft. Dann max. zu zweit. Arzttermine werden abgesagt, Spielplätze gesperrt. Zur besten Spielzeit an einem sonnigen Nachmittag herrscht beänstigende Stille – Gruseln mischt sich allmählich unter das fröhliche Gezwitscher der Vögel.

Die Natur blüht auf. Der Himmel strahlt in blankgeputztem Blau. Kein einziger Kondensstreifen ist zusehen.
Nepal macht die Grenze dicht – aus der Traum vom Tourismusjahr 2020. Eine Freundin sitzt in Quarantäne fest. Sie ergattert dann zum Glück noch rechtzeitig einen der begehrten Rückholflüge.
Eines morgens finde ich ein Tellerchen vor meiner Wohnungstüre. Eine rührende Botschaft meiner Nachbarn darauf.
Was bin ich froh, am Wochenende arbeiten zu dürfen!
Meine Kunden gehen überwiegend gelassen mit der Situation um. Inzwischen bin ich im Besitz einer professionellen Mundschutzmaske.
Herr L. meint, das Leopardentuch hätte ihm besser gefallen. Es würde ihn an Indien erinnern. Schnell ziehe ich das Leopardentuch über die Nase. Besser so? Ja!
Die Kollegen nennen mich jetzt Schneeleopardin.
Hakim schreibt und fragt, ob ich die inficktionmittel hätte. Ja, habe ich. In Nepal nie verwendet. Nun steht es in vorbeugendem Gehorsam dienstbereit auf dem Tisch.

Wenn ich morgens die Augen aufmache, wähne ich mich regelmässig in einem bösen Alptraum gefangen und muss mich erstmal schütteln, möchte diesen Alptraum einfach abschütteln.
Ich baue mir Routinen, um dem virulenten Alltag etwas Normalität zu verleihen.
Laufe morgens zur Arbeit und mittags in grosser Runde wieder zurück.
Mein Frühstücksgeschirr lasse ich stehen, spüle es erst, wenn ich mittags nachhause komme, in der Hoffnung, damit alles Krankmachende und Bedrückende im Abfluss zu versenken.
Nach dem Essen geh ich oft zur Bank. Die steht mittags jetzt schon schön in der Sonne.
Stundenlange Telefonate und Chats. Mache täglich Ausflüge, abwechselnd mit dem Rad oder zu Fuss.
Zum Treffen am Grenzzaun, um einen Bund Radieschen und Petersilie auf der Reichenau zu kaufen.
Laufe zum Fuchshof, packe meinen Rucksack voll mit Gemüse, Käse und Fleisch. Das Bergtraining für after tomorrow.
Viele Läufer sind unterwegs, viel mehr als sonst. Sie rennen, rennen irgendwohin, scheinen diesem Gruselfilm entkommen zu wollen, irgendwohin, wo alles anders ist.
Eine Kind springt fröhlich auf mich zu. Die dazugehörige Mutter entschuldigt sich dafür.
Est ist erschütternd surreal.
Die Zeit scheint still zu stehen. Manchmal fühlt es sich so an, als wäre man in einer Zeitmaschine dem falschen Zeitstrahl gefolgt und in einer bösen Parallelwelt gelandet. Wie oft schon wollte ich die rasende Zeit anhalten. Auf dem Berggipfel, beim Spiel mit den Kindern, beim Küssen, in Momenten unbeschreiblichen Glücks.
Nun gäbe ich viel dafür, die bedrückende Zeit schwungvoll weiterdrehen zu können.
Wisst ihr noch, damals, als wir uns noch über verspätete Züge, zu wenig Platz und miesen Service im Flugzeug, zu viele Baustellen und Tempolinits auf den Strassen und das grosse Sterben im Mittelmeer aufgeregt haben? Ohne Mindestabstand? Das waren noch Zeiten!