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Ungereimtes

Menschenzeit

Zuversichtliche Zwerge

Ich drücke die Klingel. Auf einem kleinen Tisch vor der Türe stehen zwei kleine, abgewetzte Gartenzwerge. Einer von ihnen hält eine Schubkarre.
Es dauert immer eine kleine Weile, bis Herr S. die Türe öffnet. Herr S. sitzt im Rollstuhl.
Ich lege kleine, herumliegende Zweige in die Zwergenschubkarre und vertreibe mir so die Wartezeit.

Herr S. öffnet die Türe und entschuldigt sich für seine Langsamkeit.
„Kein Problem, lassen Sie sich Zeit, ich habe sie auch“ antworte ich.
„Die Zwei haben es Ihnen wohl angetan“ lacht er.
Ich schiebe den Schubkarrenzwerg in die Ecke, wo er die Zweige auf einen Zwergenzweighaufen wirft und bringe das Essen in die Küche.

Ich weiss nicht, warum die Zwerge da rumstehen und ich weiss nicht, was Herrn S. an den Rollstuhl fesselt. Er ist eigentlich noch zu jung dafür. Doch trotz seiner Behinderung wirkt Herr S. immer aufgestellt und heiter. Bedankt sich jedesmal für das Essen, welches ich ihm bringe und betont, wie gut es ihm schmeckt.
Seine Zuversicht ist bewundernswert und wirkt ansteckend. Mit einem Lächeln im Gesicht fahre ich weiter zur nächsten Kundin.

Der Schalk in der Mühe

Meistens sieht oder hört mich Frau B. schon kommen und öffnet die Türe, bevor ich den Klingelknopf drücken kann. Im Laufe der Zeit entstand ein regelrechter Wettbewerb, wer zuerst an der Türe ist, meistens erhält sie den Punkt. Heute komme ich früh und bin schneller. Punktegleichstand.
„Habe mir heute Trumps Düsenjet geborgt“ erkläre ich lakonisch.
„Dann haben Sie bestimmt ein paar Minuten Zeit für einen Kaffee.“
Selbstverständlich habe ich die! Setze mich an den Küchentisch und höre zu.
Frau B. pflegt ihren bettlägerigen Mann seit Jahren alleine.
Ihre Zähne klappern, aber sie hat Schalk im Nacken. Morgens sind sie noch nicht festgemacht, erklärt sie und reicht mir Kekse zum Kaffee. Bilder der Kinder und Enkelkinder hängen an der Wand. Von der Decke baumeln die ersten Schuhe ihrer Kinder an einem Mobile. Sie erzählt von den Kindern, Enkeln und vom 56. Hochzeitstag, den sie und ihr Mann gestern gefeiert haben.
Dann kramt sie eine grosse Tasche aus dem Nebenzimmer und zeigt mir Quiltarbeiten, ihr geliebtes Hobby ausser dem Tanzen.
Ja, sie könne Rock ’n’ Roll tanzen und mache das immer noch, wenn die entsprechende Musik im Radio kommt. „Ich tanze auch für mein Leben gern, auch manchmal zuhause für mich allein“ verrate ich ihr.
Bevor ich aus der Tür gehe, machen wir ein paar Tanzschritte zusammen. Dann steige ich in meinen Jet der Marke Ford und düse zum nächsten Kunden.

Made my day.

Schöngebeugt

Stolze 91 Jahren haben den Rücken von Frau A. gebeugt, der Gang ist schleppend. Es ist nicht viel mehr als Haut und Knochen, was den Körper zusammenhält. Doch die wachen Augen strahlen noch und ihre Gesichtszüge erzählen von gelebtem Leben und vergangener Schönheit. Es ist nach Weihnachten frage ich sie, ob sie schöne Tage mit ihrem Sohn verbrachte. „Nein. Ich war die ganzen Weihnachten über alleine. Er hatte keine Zeit“ erzählt sie mir mit Tränen in den Augen. Sprachlos nehme ich sie einfach in den Arm und ziehe danach etwas hilflos die Türe hinter mir zu.
Irgendwie mag ich diese Frau und sie geht mir lange nicht aus dem Kopf. Ich würde mich gerne mal länger mit ihr unterhalten, sie fragen, wie alt ihr Sohn ist, wann ihr Mann gestorben ist und ob sie noch Kontakte im Dorf hat, will ihr aber auch nicht zu nahe treten.

Am nächsten Tag frage ich sie einfach. Sie bittet mich in ihre schöne, aufgeräumte Wohnung und zeigt mir das Arbeitszimmer vom Mann, welches seit seinem Tod unverändert blieb. Wir schwelgen in alten Familienfotos und sie erzählt begeistert von einer langen Chinareise.
An der Wand im Flur hangt ein altes Schwarzweissportrait von einer bildhübschen, jungen Frau. Die Ähnlichkeit mit Frau A. ist auch nach 70 Jahren unverkennbar. Es ist ein Passbild, welches ein Fotograf vergrösserte und im Schaufenster seines Geschäfts in Waldshut, ihrem Geburtsort, ausstellte.
Während sie all die Geschichten erzählt, macht sich ein Strahlen auf ihrem Gesicht breit. Gerne würde ich länger bleiben, aber die anderen Kunden warten… Bevor ich ihre Wohnung verlasse, muss sie mir versprechen, noch lange gesund zu bleiben, damit sie mir noch viele Anekdoten aus ihrem langen, interessanten Leben erzählen kann.