1968 – Die „Studentenbewegung“ oder: Der Aufstand gegen die Nazigeneration – heute abend in der Spiegelhalle in Konstanz
Der Vortrag von Hannes Heer entliess mich sehr aufgewühlt in die Nacht. Viele Erinnerungen an eine wilde und ereignisreiche Epoche wurden freigelegt, eine Epoche, die lange schon in der Schublade der alten Geschichten schlummerte. Sehr lange verhinderte eine emotionale Sperre, mich mit dieser Zeit und der Rolle, die meine Familie darin spielte, persönlich. politisch und historisch ernsthaft auseinanderzusetzen.
Ein paar Nachgedanken.
Deutschland war damals ein zutiefst reaktionäres und autoritäres Land.
In vielen Köpfen spukte noch das dritte Reich. Der Muff von 1000 Jahren war an den Schulen und in den Familien zu spüren. Da gab es noch Ohrfeigen und Demütigungen in der Klasse, wenn Lehrer meinten, sie wären dazu berechtigt. Die Gesellschaft war durchwirkt mit Altnazis, die in Schlüsselpositionen saßen und die öffentliche Meinung und die Justiz mitbestimmten.
Ich war damals 12 Jahre alt und folglich noch mehr oder weniger kindliche Beobachterin. Zu jung, um die Hintergründe und die historische Dimension voll zu erfassen, aber alt genug, um rebellisch alles zu hinterfragen und zu spüren, dass in dieser autoritären, verbiesterten Gesellschaft etwas gewaltig schief lief.
Die Aktivitäten meines ältesten Bruders in linken, studentischen Gruppierungen haben mich sehr beeinflusst. Ich habe zwar nicht alles voll durchschaut, fand die Entwicklung aber aufregend und spannend. Politik war bei uns zuhause immer präsent und es wurde viel – auch kontrovers – diskutiert.
Als Jugendliche in den 70ern waren wir noch sehr von der Bewegung geprägt. Die Gesellschaft wurde modernisiert. Willy Brandt kam. Dann der kulturelle Durchbruch, besonders in der Musik: Jimi Hendrix, Bob Dylan, Joan Baez. Woodstock. Psychedelic. Drogen. Hippies. Freie Liebe. „Make love, not war!“
Trotz vieler Wirrungen, Verirrungen und tragischer Fehlentwicklungen bin ich sehr dankbar dafür, in dieser Zeit erwachsen geworden zu sein.
Sie hat mein ganzes, bisheriges Leben stark geprägt.
Wer heute etwas verändern will, der wird sich mit der Geschichte dieser weltweiten, sozialen Bewegung auseinandersetzen müssen. Mit ihren Erungenschaften, Fehlleistungen, Niederlagen.
Das Risiko der Veränderung besteht immer darin, dass niemals gesichert ist, dass sie zu (wie auch immer definiertem) Fortschritt führt.
Aus der Ankündigung der Veranstaltung:
„Wer die Augen nicht im Affekt verschließt, wird zugeben müssen: diese Revolte war für die politische Kultur der Bundesrepublik ein Einschnitt, in den heilsamen Folgen nur übertroffen von der Befreiung vom NS-Regime durch die Alliierten im Jahre 1945.“ So hat der Frankfurter Sozialwissenschaftler Jürgen Habermas rückblickend das beurteilt, was vor 50 Jahren die Bundesrepublik erschüttert hat. Die Organisation, die diese Protestbewegung maßgeblich initiiert und geprägt hat, war der SDS, der Sozialistische Deutsche Studentenbund. Der Historiker Hannes Heer erzählt die Geschichte des SDS und analysiert dessen politische Vorstellungen, Wirken und Entwicklung und stellt das historische Erbe dieser Freiheitsbewegung zur Debatte. Heer war als Vorsitzender des SDS in Bonn auch Protagonist der Revolte.
In seinem Film „Mein ’68: Ein verspäteter Brief an meinen Vater“ (WDR 1988) versucht er 20 Jahre nach dem Ende der Studentenbewegung eine im Leben gescheiterte Auseinandersetzung mit seinem Vater nachzuholen. Dieser, früheres NSDAP-Mitglied, reagierte auf den politischen Protest der Studierenden wie seines eigenen Sohnes mit hasserfülltem Unverständnis und brach alle Brücken zu ihm ab. So entsteht aus der doppelten Perspektive des Protagonisten wie des Wissenschaftlers und von zwei historischen Punkten der Rückschau aus ein komplexes und aktuelles Bild der Revolte von 1968.
Hannes Heer,Jg. 1941, hat nach dem Studium der Geschichte und Literatur in Freiburg und Bonn als Theaterdramaturg, Filmregisseur und Ausstellungsmacher gearbeitet. Er leitete u. a. die Ausstellungen „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944″ und „Verstummte Stimmen. Die Vertreibung der ‚Juden‘ aus der Oper 1933 bis 1945.“ Heer hat zahlreiche Publikationen zur Geschichte von Antisemitismus, Nationalsozialismus, Krieg und Nachkriegserinnerung verfasst. Er ist Träger der Carl-von-Ossietzky-Medaille und lebt in Hamburg.