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Charity Mehrtagestour

Friedhöfe können Leben retten

Wieviel Schritte meine Füsse in den letzten Wochen wohl zurückgelgt haben? Vielleicht waren es 1.628.233 oder mehr, ich habe sie nicht gezählt. Obwohl ich nach jeder der 35 Tagesetappen und auch in den 6 Ruhetagen Hand anlegte und  ihnen eine 1-stündige Spezialbehandlung zukommen liess, beschweren sie sich noch täglich über die vielen zerstörerischen, asphaltierten Kilometer.

Schritt für Schritt, im Schneckentempo, aber immer zielgerichtet nach Norden, trugen sie mich unbeirrt über Waldwege und Mittelgebirge, durchpflügten Felder und Blumenwiesen, stocherten durch Moore, durchschritten Tiertunnel unter der Autobahn, kletterten über windgefällte Bäume und quälten sich an nichtendenwollenden Landstrassen entlang.

Nach 41 Tagen stand ich dann ungläubig am Ortsschild von Hamburg.

Nie gab es die Option, abzubrechen und das laufende Leben vorzeitig zu beenden. Da war immer nur Vorne, der Moment, der nächste Schritt, der nächste Kilometer und dann der nächste Tag. Neben der Freude über die  kontemplative Freiheit bestimmten im Wesentlichen die banale Sorge um Trinkwasser, Proviant und den nächsten Schlafplatz  den Tagesablauf.

In der deutschen Provinz ist man nicht eingerichtet auf Fussgänger.
Tagelang wanderte ich durch menschenleere Landschaften und Dörfer. Zu meiner Freude erinnerten Wälder oft an die kanadische Wildnis weitab der Zivilisation.
In den Dörfern standen hübsche, leblose Häuser mit akkurat beblumten Vorgärten hinter schützenden Zäunen, verloren wirkende Gartenzwerge winkten vom kurzgeschorenen Rasen den einsamen Steinbuddhas auf ihren Sockeln zu. Selten sorgte eine Bäckerei für Abwechslung und noch seltener ein Gasthaus. Die bizarre Szenerie der Schlafdörfer regten meine Phantasie zu absurden Gedankenspielen an. Vielleicht war mir ja der finale Atomschlag entgangen und es gab gar keine Menschen mehr, sondern nur noch sauber verstrahlte Landschaft?
Obwohl ich asphaltierte Schneisen als etwas Lebensfeindliches empfand, war ich manchmal richtig froh, wenn ich mich einer Strasse näherte und Motorengeräusche als Indikator für menschliches Leben vernahm. In den Autos sassen sie alle und wir gafften uns an, getrennt durch Scheiben, sie drin sitzend und schnell, ich draussen gehend und langsam, eine anachronistische Randerscheinung. Die Schnellsitzer taten mir leid, vermutlich beruhte dies auf Gegenseitigkeit.

Menschen bewegen sich heutzutage überwiegend sitzend vorwärts.  Unberädert und unmotorisiert stösst man in der untouristischen Versorgungs-Diaspora schnell an Grenzen, die ich so vorher nicht kannte und die Kreativität bei der Nahrungs- und Energiebeschaffung erforderte. Meistens musste ich lange Umwege in Kauf nehmen  um an einen Supermarkt zu gelangen. Da ich nicht wusste,  wann die nächste Versorgungsmöglichkeit kommt, kaufte ich meist zuviel Essen, welches dann nicht in meinen schon prall gefüllten Rucksack passte. So erfand ich das Essen und Trinken auf Vorrat und futterte sofort so viel wie möglich davon in mich hinein. Vollgestopft aber würdevoll wie ein Kamel trabte ich dann durch die Wüste der Infrastruktur und zehrte den restlichen Tag von meinem Vorratshöcker. An den heisseren Tagen verbrauchte ich viel Flüssigkeit für die Kühlung, die Vorräte waren entsprechend schnell erschöpft. Wasser wurde kostbar und ich trauerte jedem Schweißtropfen hinterher, der ungenutzt im Boden versickerte.

Obwohl Friedhöfe auf den ersten Schein nichts mit Supermärkten gemein haben, wurden sie für mich bald zum bevorzugten Versorgungsquell. Friedhöfe sind nicht nur Ruhestätten für die Toten, sie können auch wahre Oasen für die Lebenden sein! Immer stehen dort Brunnen mit Trinkwasser und einladende Bänke im Schatten, oft gibt es Toiletten, in denen man sich etwas frisch machen oder auch mal ein verschwitztes Shirt waschen kann und regelmässig finden sich zwischen der schweigenden Mehrheit redseelige Mitmenschen für einen Tratsch. Nicht so in den verwaisten Kirchen, dort traf ich nie jemanden. Auch für mich als Nicht-Christin waren Kirchen bisher Nogo-Areas. Auf dieser Wanderung durch Groß-Klein-Deutschland gewannen Kirchen schlagartig an Bedeutung, habe ich sie  von einer anderen Seite kennen- und schätzengelernt. In jeder Kirche gibt es Steckdosen. Falls die Türe offen ist, kann man dort Geräte laden und in der Zwischenzeit ungestört ein Nickerchen machen.

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass Kirchen und Friedhöfe jemals zuvor solch eine starke Anziehungskraft auf mich ausgeübt hätten.
Sie wurden während der ganzen Wanderung zu einem gern besuchten Zufluchtsort.