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Sweet Home

Leben im Konjunktiv II

Du läufst durch blühende Landschaften. Die Natur befreit sich aus dem Käfig des Winters, gelb und weiss und pink bricht sich Bahn durch Zäune und über Mauern. Blütenstaub kitzelt in der Nase. Kein Flugzeug hinterlässt Kondensstreifen am Himmel. Eigentlich ist alles gut. Wären da nicht diese besonderen Zeiten.
Du weisst nicht, ob du dich über den unbefleckten Himmel freuen sollst, oder ob du die verhassten Streifen0, welche von fernen Ländern und möglichen Abenteuern künden, heimlich herbeisehnst. In dem Glauben, dass alles doch wieder gut wird. In dem Wissen, dass diese Streifen das Unheil beschleunigen. In dem Wissen, dass Beschleunigung Unheil bedeutet.

Mitten im März ein Rückfall in den Winter. Es stürmt und ist bitterkalt. Dick eingemummt radelst du an die Kunstgrenze. Was macht man nicht alles in diesen verstörenden Zeiten. Wo du noch gestern unbekümmert hin- und herflaniert bist, steht nun ein überwachter Zaun. Nur eine handvoll Sehnende treffen sich dies- und jenseits. Wie ein Raubtier im Käfig läufst du auf und ab, versuchst zu begreifen und doch gelingt es nicht. Blicke, Umarmungen und sehnsüchtige Worte. Sie helfen, das Unbegreifliche in Momente des Glücks umzuwandeln. Bis du wieder allein vor dem Zaun stehst, und das Unbegreifliche erneut Besitz ergreift.

Du läufst auf die Reichenau, um einen Bund Radieschen an einem der Selbstzahlerstände zu erstehen. Was macht man nicht alles in diesen abständigen Zeiten. An der Sandseele, wo sich normalerweise Horden von Sonnenuntergangsanbetern tummeln, Stille und Einsamkeit. Klar und friedlich liegt dir der See zu Füssen. Du erschrickst beinahe, als zwei Menschen mit Hund fröhlich plappernd deine Selbstvergessenheit stören. Der Hund nimmt ein kurzes Bad, ein paar Worte in gebührendem Abstand, dann wird es wieder still.

Du läufst zum Fuchshof, um Gemüse und Fisch aus der Region zu kaufen. Was macht man nicht alles in diesen entzauberten Zeiten. Hauptsache raus.
Auf der alten Allee zur inzwischen gesperrten Mainau mischt sich manchmal Gruseln unter das fröhliche Gezwitscher der Vögel.
Viele Läufer und Spaziergänger sind unterwegs, viel mehr als sonst. Du läufst und läufst und möchtest glauben, dort sei es besser. Glaubst, aus dem Gruselfilms hinauslaufen zu können, dorthin, wo alles anders ist.
Dann springt ein Kind fröhlich auf dich zu. Die dazugehörige Mutter pfeift das Kind zurück und entschuldigt sich für das Nahkinderlebnis. Da ist es wieder. Das unsichtbar Unbegreifliche.

Du läufst durchs Wollmatinger Ried, absichtslos, nur um zu laufen und einen scheuen Blick auf das andere Ufer zu werfen. Das andere Ufer, welches nah erscheint und doch unerreichbar ist. Was macht man nicht alles in diesen erschütterten Zeiten. Der Weg führt dich durchs Industriegebiet, vorbei am Biergarten Stromeyersdorf. Zu anderen Zeiten wären an solch einem wunderbar lauen Frühlingsabend die Tische voll mit Bier und Bratwürsten, auf den Bänken würden lachende, fröhlich plappernde Feierabendmenschen eng nebeneinander sitzen. Nun wirkt alles wie ausgestorben. Die Bänke stehen verlassen und warten auf die Nacht. Erschütternd surreal.

Du radelst nach Allensbach. Irgendwo muss es doch sein, das Shangri-La. Was macht man nicht alles in diesen kontaktarmen Zeiten.
Suchst einen geeigneten Platz, um das Kajak freizulassen. Findest ihn nicht. Denn dort, wo du dachtest, du könntest, stehen Zäune. Es ist trotzdem schön, Komplize beim Versenken der Sonne zu sein. Immerhin versammeln sich in grossen Abständen noch andere Komplizen. Gemeinsam überlusten wir mit Kitsch diese unwirklich scheinenden Zeiten.

Es ist Karfreitag. Du radelst nach Allensbach, schleppst dein Kajak an ein menschenleeres Ufer und paddelst los. Was macht man nicht alles in diesen besonderen Zeiten. Weit und breit kein Corona und vor allem keine Nachrichten. Glasklares, absolut ruhiges Wasser und streifenloser Himmel, soweit der Blick reicht. Schwäne und Enten schwimmen mit dir um die Wette. Ab und zu dringt vom Ufer leises Lachen an dein Ohr. Und dann mischt sich zwischen das Gefühl tiefer Entspannung diese fast beängstigender Stille. Es fühlt sich an wie die Ruhe vor dem Sturm.
Am Ende dieser ausgiebigen Tour hast du die besonderen Zeiten fast vergessen, beglückt und erschöpft steigst du aus dem Boot – und gehst mit der Kamera unfreiwillig baden. Das ist noch nicht der Untergang, doch es sind vorerst die letzten Bilder aus dieser Kamera.