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Tour

Zu den schweigenden Orgeln am Pass digl Orgels (2.699 m)

Während die Freunde der Feuchtgebiete auf dem Bodensee hart am Wind segeln, zieht es mich in meinem Raumwunder auf 4 Rädern in die graubündnerische Vollmondnacht.

op·ti·mie·ren – etwas in den bestmöglichen Zustand versetzen

Kaffee.
Das mit dem vorgekochten Kaffee in der Thermospulle hat sich bewährt, kann man so lassen.
Bettverschraubung.
Statt den Sechskantschrauben und dem Sechskant-Ratschenschlüssel nehme ich die Ringschrauben. Mit 2 Fingern reindrehen – passt! (hätte ich auch früher draufkommen können).
Rotwein.
Die grossen Flaschen fallen auf unebenem Grund oder im Auto gerne um – meistens gerade dann, wenn kein Verschluss darauf ist. Trinke ich aber eine ganze Flasche, damit nachher nichts auslaufen kann, falle ich um und laufe aus. Innovation: kommt als Flaschen-Fertig-Viertele in den DinerForOne-Korb. Kann man zwischen 3 Belichtungsreihen trinken und es müssen keine Rotwein-Restbestände heimgekarrt werden.
Stativ!
Wie will man sonst scharfe Passfotos von den zahllosen Sternen machen?
Hormone!?!
Kleinst-Monster, je nach Quantität in der Lage, einem an den Rand des Wahnsinns zu treiben oder handlungsunfähig zu machen.
Hatte ich nicht immer eine Notration Schilddrüsenhormon in meinem Waschbeutel? Jetzt jedenfalls nicht. Gibt einen Eintrag ins Klassenbuch.
Meine Hoffnung: schneller auf dem Pass zu sein, als die Auswirkungen des fehlenden Hormons in meinen Zellen.
Musik
Viel. Mehr. Blues. Und Maître Gims.

Dank der hervorragenden Tele-Unterstützung einiger Wanderkollegen finde ich den Parkplatz sofort. Oberhalb von Tinizong, neben  einer ziemlich steilen Strasse – die Schieflage meiner rollenden Matratze ist unübersehbar. Nach ein paar Optimierungsversuchen gebe ich auf und beschliesse, dass ich nicht nach oben oder unten und auch nicht nach links rutschen will, sondern nach rechts, und gleiche das Gefälle mit Decken auf ein erträgliches Mass aus.
Nach Einbruch der Dunkelheit versuche ich mich als Sterntaler. Doch sie wollen einfach nicht herunterfallen.  Es erweist sich als ziemlich schwierig die Sterne mit der Linse vom Himmel zu holen. Zum Glück hat mir Marius noch einen Schnellkurs im Sterneablichten verpasst, so dass ich mit wenigem Rumgeschraube zu einigen passablen Ergebnissen komme.
Dann stören plötzlich 2 Scheinwerfer meine Versuchsreihe. Es ist gerade 22 Uhr, als ein Audi mit Konstanzer Kennzeichen und hohem Tempo neben mir einparkt. Ein junger Mann springt heraus, schnappt einen Rucksack mit Skiern aus dem Kofferraum. Bevor er bergauf stürmt, verwickle ich ihn noch in ein kurzes Gespräch. Er will hinauf zum Piz d’Err und auf Skiern wieder hinunter. Und er ist spät dran und möchte oben auf halber Höhe biwakieren…Sachen gibt’s!
Am nächsten Morgen glaube ich, geträumt zu haben, aber das Auto steht immer noch da.
Nach dem obligatorischen Kaffee folge im fahlen Morgenlicht den Wegweisern zum Orgelpass, Beinarbeit ist angesagt. Über ein Labyrinth aus Murmellöchern kämfe ich mich auf immer steiler werdendem Pfad nach oben.
Die imposanten Eiszeitrelikte wuseln in Scharen um mich herum und sind bis zum Lai Tigiel meine einzigen Begleiter. Die schroffen Felswände des Piz Mitgel nehmen bereits ihr erstes Sonnenbad, dann baut sich der mächtige, formschöne Corn da Tinizong vor mir auf. Die scheinbare Nähe täuscht. Es fliesst noch viel Schweiss, bis das Gelände abflacht und Stimmen die baldige Ankuft am Lai Tigiel ankündigen.
Eine handvoll Menschen geniesst am See den wunderbaren Ausblick in dieses grandiose Amphitheater.
Ich verweile nur kurz. Der Weg zur Passhöhe wird etwas anspruchsvoller, über Blöcke schwingt sich der Pfad steil zu den bizarren Zacken hoch.
Oben bekomme ich Gesellschaft von einem Mann mit Sohn und Schäferhund aus dem Karlsruher Raum. Nach einem netten Gespräch steigen sie weiter zum Pass Ela und ich rutsche über das steile Geröll hinunter zum See. Inzwischen bin ich wieder mit den Murmeltieren alleine und atme noch lange die Schönheit der Bergwelt, bevor ich mich an den finalen Abstieg mache.
Auf etwa halbem Weg beschliesse ich noch einen Abstecher zur Alp d’Err zu machen und von dort nach Tinizong zurückzulaufen. Der Weg kreuzt eine Kuhweide und die Kühe scheinen ein rauflustiges Interesse an mir zu haben. Da ich einmal auf einer früheren Wanderung von einer Kuhherde angegriffen wurde, wird mir etwas mulmig und obwohl mir ein anwesender Bauer versichert, die seien nur neugierig und wollten spielen, ziehe ich mich zurück und gehe den Aufstiegsweg hinunter. Die letzten Meter ziehen sich endlos und werden zur wohlverdienten Qual…nach 11 Stunden, 1.500 Höhenmetern, knapp 20 km und tausend unbeschreiblich schönen Eindrücken rolle ich wieder nach Hause.

P.S. mitten in der Nacht, so gegen 2 Uhr, wurde es plötzlich wieder hell. Ich dachte gleich, weitere verrückte Bergsteiger rücken an, die in der Dunkelheit einen Berg spazieren wollen. Gefehlt! Es war DER VOLLMOND.
Aber selbst ein Supermond hätte nicht vermocht, mich nochmal aus meiner Schlaftüte zu holen…