„Der Geist wird erst frei, wenn er aufhört, Halt zu sein.“
Der Berg rief nicht, er schrie. Unüberhörbar.
Seit meiner Rückkehr aus Nepal das erste mal. Es braucht immer eine Weile, bis die Bilder und Geschichten aus dem grossartigen Himalaya blasser werden, um mich mit der heimischen Bergwelt wieder anzufreunden.
Lasse ich zu wenig Abstand, wird mir das Fehlen der unfassbaren Weite, der gewaltigen Dimensionen und der geliebten Menschen zu schmerzlich bewusst und macht mich eher traurig. Den Himalaya kann man nicht relativieren.
Zum Glück hatte ich einen gut gefüllten Terminkalender, so kam ich nicht in eventuelle Entscheidungskonflikte.
Gestern war ich dann bereit.
Nachmittags mein Raumwunder auf 4 Rädern gepackt und ab nach Arosa. Bisher ein blinder Fleck auf meiner Berg-Karte, ein neues Revier. Wunderbar entspannt die Fahrt. Kaum Verkehr. Die Strasse nach Arosa ein Autofahrertraum. Viele Kurven, aber nicht zu steil. Allerdings gab es da einen denkwürdigen Zwischenfall. Ein Autofahrer aus der Gegenrichtung lenkte sein Fahrzeug ohne erkennbaren Grund wenige Meter vor mir direkt auf meine Fahrspur, direkt auf mich zu. Ich erstarrte kurz – es gab keine Ausweichmöglichkeit! Dann lenkte er zurück und fuhr vorbei. Terroristischer Anschlag auf Hilde??? Oder lief gar eine Maus über die Strasse und er versuchte auszuweichen??? Who knows…
Dann Arosa. Unglaublich hässlich. Aber das ist zum Glück nicht mein Ziel, mein Ziel ist die Kläranlage von Arosa. Eine Stunde vor Dunkelheit komme ich an, genügend Zeit, das bescheidene Nachtlager zu richten.
Inzwischen bin ich routiniert darin, es bleibt noch Zeit, einen Becher Rotwein zu trinken und ein bisschen umherzustreifen. Mit dem letzten Schluck fängt es an zu regenen.
Schnell verkrieche ich mich in die Schlaftüte – Platz ist in der kleinsten Hütte. Regenstakkato aufs Autodach und immer ein bisschen Gruseln. Bin ich doch die einzigste, die hier nächtigt und der Platz ist total abgelegen. Aber das gehört dazu…das letzte, kleine Abenteuer in einer sonst ausgepolsterten und satten Welt. Wie ich diese Solo-Touren mit Übernachtung am Berg liebe! Mit nur ganz wenig Sach aber viel Glück pur.
Irgendwann trommelt mich der Regen in einen tiefen Schlaf mit wilden Träumen, wie ich sie immer träume, wenn ich freigelassen bin.
Als ich aufwache ist es 5 Uhr und schon fast hell. Ein kurzer Blick hinter den Vorhang verrät mir blauen Himmel. Ich rolle mich noch mal zusammen und döse vor mich hin. Um 6 Uhr gibt es Kaffee aus der Thermoskanne. Obwohl gestern Nachmittag gebrüht, ist er noch richtig heiss. Ein Stück Nuss-Zopf und eine Banane, dann rein in die Bergschuhe und los gehts in den Morgentau.
Der Weg zum Schiesshorn führt direkt von der Käranlage weg. Ein wunderbarer Bergtag auf besonders schönen Wegen folgt. Bis kurz vor dem Gipfel des Schiesshorns treffe ich keine Menschenseele. Ein Fuchs huscht mal vorüber und die Murmeli pfeifen Alarm. Ich kann mir nicht helfen – wenn Füchse wegrennen, sehen sie immer aus, als ob sie etwas verbrochen hätten.
Dann am Gipfelgrat. Ein Mensch! Wo kommt der denn plötzlich her? Er rennt zum Gipfel hoch, als wäre er auf der Flucht. Jeder wie er’s braucht. Ich komme jedenfalls ziemlich sprachlos oben an, das letzte Stück am Grat raubt mir den Atem.
Als ich wieder genügend Luft bekomme, folgt ein freundlicher Wortwechsel, dann rennt der Kollege wieder hinunter. Ich bleibe noch ein Weilchen, geniesse die prächtige Aussicht und esse mein Vesper.
Runter geht es dann auf der anderen Seite, um zwei Bergrücken herum. Es sind noch viele Schneefelder zu queren, einige sind mir zu steil und ich umgehe sie ober- oder unterhalb.
Bevor es in die Flanke des Welschtobels geht, mache ich noch eine ausgiebige Fotografier- und Vesperpause.
Steil geht es dann runter und zurück zur Kläranlage. Kurz vor der Kläranlage ist ein Heli-Landeplatz. Ein Helikopter steht dort und als ich ihn fotografiere hebt er ab und fliegt direkt auf mich zu…
Ein unglaublich schöner Bergtag geht zu Ende. Arosa, ich komme wieder…es warten hier noch einige Hörner auf mich!