Gudrun und ich, das bewährte 2er-Berggespann, waren mal wieder auf unserer jährlichen Tour, die erste gemeinsame seit Nepal. Ins Engadin sollte sie gehen, meine Lieblingsschweiz. Das Oberengadin und die Natur und Bergwelt um St. Moritz und Pontresina sind für mich seit meinem ersten Besuch das Paradies der Schweizer Berge.
Das derzeitige, stabile Sommerwetter machte es uns leicht, einen gemeinsamen Termin über mehrere Tage zu finden. Wir fuhren am Donnerstag Nachmittag los, trafen uns am Bahnhof in Au, Gudrun stellte dort ihr Auto ab (kostenfreie Parkplätze, sehr praktisch) und wir fuhren zusammen mit meinem Auto weiter nach Pontresina um dann, ein paar Kilometer weiter, auf dem Campingplatz Morteratsch unser Zelt aufzustellen. Ein sehr hübscher Flecken übrigens, naturbelasen und mit schöner Aussicht auf die Berge.
Am Freitag in der Früh beschlossen wir, das Stück von Morteratsch bis zur Talstation Diavolezza, von wo der Wanderweg Richtung Fuorcla Pischa abzweigt, nicht mit dem Auto zu fahren, sondern zu laufen. Wir konnten uns Zeit lassen, denn wir wollten auf der Georgy’s Hütte am Piz Languard übernachten und am nächsten Tag auf dem Steinbockweg weiter nach Muottas Muragl und von dort wieder zurück mit der Rhätischen Bahn nach Morteratsch.
Der Wanderweg zur Diavolezza, der mehr oder weniger neben dem Berninapass verläuft, zog sich ordentlich in die Länge. Dort ging dann über die Passstrasse ein langer, aber sehr schöner Weg ins Val dal Fain (Heutal), erst mal auf breitem Weg und in leichtem Anstieg bis zur Weggabelung und von dort auf schmalem Weglein steil im Zickzack bergauf und dann über die Fuorcla Pischa. Ein Weg, den wir beinahe nicht gegangen wären, weil ich zuvor bei der Planung der Tour im Internet über den tödlichen Absturz einer Frau vor 2 Wochen unterhalb der Fuorcla Pischa gestolpert war. Da klopfte mein Hasenherz, an ausgesetzten Stellen bin ich nun mal keine Heldin. Die herrlichen Bilder, die ich aus der Gegend gesehen hatte, wirkten aber der Furcht entgegen und wir bereuten es kein bisschen.
Ein kurzer, steiler Anstieg durch felsiges, mit Seilen und Geländern gesichertes Gelände brachte uns auf ein mondlandschaftliches Plateau. Durch diese eindrückliche Landschaft ging der Weg weiter über zahlreiche Schneefelder, aber gut markiert bis zur Fuorcla Pischa und dann in langer Flanke unterhalb der Crasta Languard bis zum Einstieg des Gipfelaufbaus vom Piz Languard. Eine Steinbockherde sorgte unterwegs für eine nette Abwechslung bevor es an den Schlussaufstieg ging. Als wir oben ankamen, hatten wir die Terasse überwiegend für uns allein, die meisten Tagesausflügler waren schon wieder abgestiegen. Auf dem Liegestuhl in der Nachmittagssonne liess es sich vorzüglich aushalten, das gesamte Oberengadin, von der Berninagruppe über die Oberengadiner Seenplatte bis zu den Albulabergen bekommt man dort oben gratis zum Kaffee serviert.
Im Laufe des Nachmittags machten wir die Bekanntschaft von Brigitt und Werner, die dann auch im Lager übernachteten. Des weiteren trudelte noch eine Familie ein, nach mehreren Portionen Obstsalat machten sie sich aber wieder an den Abstieg. Ein paar Gemsen und ein Steinbock gaben sich zwischendurch die Ehre und liessen sich artig fotografieren. Später stieg eine Riesenkiste den Berg rauf, ich traute meinen Augen nicht. Als die Kiste oben eintraf, kam dann auch der Träger zum Vorschein. Nima, ein Nepalese und Freund von Claudio, dem Hüttenwirt! Wir staunten nicht schlecht.
Claudio und Nima betätigten sich den restlichen Nachmittag als Schneeträger. Da es auf der Hütte kein fliessendes Wasser gibt, wird das zum Kochen und Waschen benötigte Nass aus Schnee und Regenwasser gewonnen. Hinter der Hütte gab es ein altes Schneefeld, welches die Beiden in mühevoller Schlepperei abtrugen und damit den Wassertank an der Terrasse befüllten.
Nach dem Abendessen sassen wir noch gemütlich mit Brigitt, Werner und Nima zusammen, und redeten übers Engadin, über Nepal und Deutschland, über Angela, den Franken, Buddha, Gott und die Welt und über das „Das grüne Seidentuch“, eine Bündner Familiensaga von Marcella Maier. Irgendwann gingen wir dann auch ins Bett, Brigitt und Werner wollten für einen frühen Gipfelaufschwung um 5 Uhr aufstehen.
Um 5:48 Uhr trat ich vor die Hütte, gerade rechtzeitig. Ich war nicht mit dem falschen Fuss aufgestanden, sondern mit den falschen Socken. Die Socken fühlten sich gut an, nicht anders wie meine eigenen, also kein Grund für Misstrauen. Zu dieser frühen Stunde, oberhalb von 3000m üM, war die Welt voll in Ordnung, die Sonne lauerte schon hinter dem Horizont auf ihren spektakulären Auftritt. Von diesem Sonnenaufgang träumte ich seit 1 Jahr, seit ich letztes Jahr das erste mal auf dem Piz Languard stand und diese unbeschreiblich grandiose Bergkulisse drumherum mir fast den Atem raubte.
Als es dann soweit war, um 5:54 Uhr, als das erste, blutrote Kreissegment hinter der pastelligen Bergkulisse vorlugte, war ich fast etwas enttäuscht – weder Pauken noch Trompeten ertönten, kein himmlischer Chor stimmte ein Halleluja an, nicht mal Alphörner bliesen ehrfürchtig von irgendwo weit unten hinauf. Im Gegenteil. Kein Ton war zu hören, als die die Sonne höher stieg und den Himmel erst in ein Rot tauchte und dann lilablassblau färbte. Erhaben, wie der Bianco-Grat im Strahl des Morgenlichts in seiner scharfen Pracht herüberwinkte.
Dann löste sich die Stille langsam und ging in ein leises Schmatzen über. Ich schaute nach Osten über die Kante. Da waren sie wieder, die Gemsen und der Steinbock. Wenig später hörte ich lauter werdendes Plappern vom Gipfel herunter, Brigitt und Werner eilten nach morgendlichem Gipfelsturm zum Frühstück. Viel zu früh, denn es es herrschte Nepali-Time am Piz Languard. Nima musste wohl noch Kräfte sammeln, und die liegen ja bekanntlich in der Ruhe. Brigitt und Werner waren äusserst angenehme Zeitgenossen und Gesprächspartner, so fiel das Warten nicht schwer und wir klärten zwischenzeitlich die Sockenverirrungen. Nach einem Ringtausch waren die richtigen Füsse wieder in den passenden Strümpfen und wenig später steckten diese auch wieder in den Wanderschuhen. Das ersehnte Frühstück kam nebendran auch in die Gänge und bald darauf gings mit uns bergab, für den Tagesbeginn eine ungewohnte Richtung. Dementsprechend schwer fand ich den passenden Tritt. An der Weggabelung angekommen, machten wir noch ein Abschiedsfoto, bevor wir rechts gen Steinbockweg abbogen und Brigitt und Werner links Richtung Fuorcla Pischa ziehen liessen, von wo wir gestern gekommen waren.
Der Steinbockweg verläuft durch die steilen Hänge unter Las Sours, Piz Muragl und Piz Clüx zur Chamanna Segantini. Wir entschieden uns bei einer Weggabelung auf halber Strecke, die Abzweigung Richtung Alp Languard zu nehmen und dann zur Chamanna Paradis aufzusteigen. Von dort konnte man direkt auf unseren Campingplatz hinunterschauen, dahinter den Pers- und Morteratschgletscher zum Greifen nahe.
Nach einer ausgiebigen Rast mit Kaffee und suurem Moscht liefen wir auf einem wild-romantischen Weg zurück nach Pontresina und da die Bahn in Richtung Morteratsch grade weggefahren war, auch noch den Rest (es waren noch einige Kilometer!!) entlang des Berninapasses bis zum Campingplatz. Die Beine waren danach gut zu spüren.
Am Sonntag, unserem letzten Tag, wollten wir früh den Munt Pers erklimmen, um dann am Abend rechtzeitig zu Hause zu sein. Als wir um 6 Uhr unseren Kaffe ausgetrunken hatten und startklar waren, zogen Gewitterwolken auf und ruck zuck kleidete sich der Himmel in grau. So hatten wir und der Wetterbericht das nicht geplant. Was tun? Enttäuscht beobachteten wir das Wolkengeschehen an der Diavolezza-Talstation und beschlossen dann, die erste Bahn um 8:30 Uhr bis zur Bergstation zu nehmen und falls sich die Wolken verzogen haben sollten, von dort in 1 Stunde zum Gipfel zu laufen. So hatten wir das Risiko minimiert, im langen Aufstieg in ein Gewitter zu geraten. Ein guter Plan. Kaum waren wir oben, rissen die Wolken auf und nach einem stürmischen Aufstieg konnten wir vom Munt Pers nochmal ein Panorama geniessen, das Seinesgleichen sucht.